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Boßeln

Im Januar, wenn der Frost das Land durchzogen hat, der Boden hart ist und die Seen und Bäche mit einer dicken Eisschicht überzogen sind; wenn der Nordwind einem bis in die Knochen zieht und man es sich am liebsten mit einer Decke vor dem Kamin gemütlich macht. Wenn man sich schließlich doch nach draußen quält und sei es nur um sich einen neuen Keksvorrat vom Bäcker zu kaufen. Dann kann es sein, dass man sie sieht. Dick vermummte Gestalten sind zu dieser Zeit gerne in Grüppchen unterwegs. Man sieht sie Landstraßen entlang laufen, manche mit langen Stöcken bestückt.

Irgendwo lässt sich ein Bollerwagen ausmachen. Das sind sie, die Boßeltouren.
Man könnte sie für verrückt erklären. Dass die Ostfriesen gerade zu der Zeit ihren Volkssport ausüben in der andere sich dicke fette Winterpolster zulegen.
Dabei hat das alles einen ganz einfachen Grund. Angefangen hat es mit dem Klootschießen, wahrscheinlich im 16./17. Jahrhundert. Genauer gesagt taucht die erste urkundliche Erwähnung im Jahr 1510 auf. Doch dessen Ursprünge liegen noch viel weiter in der Vergangenheit. In einer Zeit, in der die Menschen noch größtenteils oder ausschließlich von der Landwirtschaft lebten, hatte man in den Sommermonaten schlicht keine Zeit sich freizeitlich zu betätigen. Dieses Vergnügen musste man sich für den Winter aufsparen.

„Kloot“ – das kommt von „Kluten“, was soviel bedeutet wie Erdklumpen. Diese Erdklumpen hatten ursprünglich wahrscheinlich einen praktischen Nutzen. Man benutzte sie vielleicht als Waffe oder, an einem Seil angebunden, zur Gewinnung von Strandgut. Man geht davon aus, dass dieser praktische Nutzen mit der Zeit überflüssig wurde, was dem Kloot den Weg bahnte zu dem, als was man ihn heute kennt: einem Wurfball. Dass zur Entstehung dieses Gegenstandes die örtlichen Bodenverhältnisse der Nordseemarschen, nämlich der klebrig, bindende Marschboden, beigetragen haben ist verständlich. Kennt man die Spielart des Klootschießens, so sind auch die klimatischen Verhältnisse verständlich, die für das Spiel erforderlich sind. Bei dieser Variante der so genannten landschaftsbezogenen Volkssportarten wird nämlich der Kloot auf freiem Feld möglichst weit geworfen. Der vom Frost durchhärtete Boden verhindert dabei das Einsinken des Wurfgeschosses in den matschigen Boden. Doch da die kalten Temperaturen auch an hartgesottenen Ostfriesen nicht abprallen, musste natürlich seit jeher für wärmende Verköstigung gesorgt werden. Mit einem Schlückchen Grog ließ es sich sogleich weiter spielen.

Leider heizte man hiermit auch nicht selten die kampflustigen Gemüter auf, sodass zwei sich gegenüber stehende Mannschaften (meistens waren es zwei Dörfer oder Ämter) leicht vom Spaß zum Ernst übergingen. Dies konnte zu bösen Ausschreitungen mit einigen Verletzten führen, wie beispielsweise ein Feldkampf zwischen den Ämtern Jever und Wittmund zeigt. Hierbei wurde ein Wirtshaus verwüstet und mehrere Menschen teilweise schwer verletzt. Einem Mann kostete die Rauferei sogar sein Ohr. Die Kirche wollte diese unchristlichen Verhaltensweisen wie Alkoholkonsum, Gewaltakte oder Wetteinsätze nicht dulden und versuchte mehrere Male dem Treiben durch Verbot ein Ende zu setzen. 1711 erfolgte dann auch von staatlicher Seite ein Verbot der Spiele, das erst im 19. Jahrhundert teilweise wieder aufgehoben wurde. Die „Nebenerscheinungen“ blieben weiterhin untersagt.

Wie es sich jedoch mit vielen traditionsreichen Spektakeln verhält, so konnte man auch den Ostfriesen ihren „Nationalsport“ nicht verbieten. Und so wurde Winter für Winter ein Wettkampf nach dem anderen ausgetragen und wurden Regeln aufgestellt, an Wurftechniken gefeilt, die Kugelherstellung optimiert und variiert. Aus Lehmkugeln wurden Holzkugeln und mit der Zeit wurde einem auch das Spiel auf dem Feld erschwert. Warme Winter ließen die Böden matschig und die zunehmende Besiedlung verkleinerte die Spielflächen auf dem Feld erheblich. Schließlich begünstigte die Einführung einer neuen Wurftechnik vermutlich den Umzug vom Feld auf die Straße und ebnete sprichwörtlich den Weg vom Klootschießen zum Boßeln.

Dieser Vorgang wird sich wahrscheinlich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogen haben. Auf Grund der neuen Bodenbeschaffenheit entwickelte man größere (Durchmesser 10 – 12 cm) und schwerere Holzkugeln, die auf der Straße nun gerollt wurden. Die einfachere Wurftechnik eröffnete das Spiel schließlich auch für eine breitere Masse von Sportlern, die sich fortan der Boßelsportlergemeinschaft anschlossen.

Aber wie spielt man denn nun dieses Spiel? Und wo bleibt eigentlich der Grünkohl?

Ja, richtig! Da fehlt noch etwas. Wer sich heute einer Boßeltour anschließt, wird merken, dass das Ganze nicht mehr viel mit dem eigentlichen Sport zu tun hat. Sicher werden die Regeln eingehalten und einen Sieger gibt es ebenfalls am Ende. Doch haben die Geselligkeit, der Schnack am Straßenrand mit dem heißen Grog in der Hand (der traditionsgemäß immer mal wieder noch dabei ist) und vor allem das anschließende Grünkohlessen in einer nahe gelegenen Gaststätte den Ernst des Spiels zur Nebensächlichkeit werden lassen und auch die Raufereien dürften dementsprechend hoffentlich zur Ausnahme geworden sein.

Zunächst braucht man für das Spiel zwei Mannschaften, seien es Boßelvereine oder wahllos gewählte Gruppen. Jede der Mannschaften bekommt eine Boßelkugel und legt eine Reihenfolge der Spieler fest. Was ebenfalls feststehen muss ist die Wurfstrecke, im Idealfall eine lange Landstraße mit möglichst wenig Kurven (einige würden jedoch darin gerade den Reiz des Spiels sehen, da man sich beim Wurf so immer auf neue Straßenbeschaffenheiten einstellen muss). Nun fängt eine der Mannschaften an zu boßeln. Dabei wirft, beziehungsweise rollt der erste Spieler der Mannschaft die Boßelkugel ähnlich wie beim Kegeln so weit wie möglich die Straße entlang. Die zweite Mannschaft tut dies der ersten gleich. Dann ist die erste Mannschaft wieder am Zug. Der jeweils nächste Spieler setzt dabei immer an dem Punkt an, wo die Kugel der eigenen Mannschaft zuletzt liegen geblieben war. Legt ein Werfer so weit vor, dass die gegnerische Mannschaft es auch mit zwei Würfen nicht schafft die Kugel einzuholen, dann gibt es einen Schoet (Punkt). Gewonnen hat am Ende die Mannschaft mit den meisten Schoets. Eine andere Variante des Spiels lässt die Mannschaft gewinnen, die die festgelegte Wurfstrecke mit den wenigsten Würfen zurücklegt.

Am Ende einer Boßeltour ist man meist trotz Handschuhen, Mütze, Schal und Wollunterhosen doch richtig durchgefroren und was gäbe es nun noch schöneres als den Abend in netter Runde bei einem leckeren Teller herzlich zubereiteten Grünkohls ausklingen zu lassen. Die Zubereitung ist im Nordwesten Deutschlands von Ort zu Ort unterschiedlich und so gibt es auch in Ostfriesland eine ganz spezielle Zubereitung.

Quelle: Helge Kujas, Klootschießen - Bosseln – Schleuderball. Die traditionellen Friesenspiele im 19. Jahrhundert und heute. Ein Beispiel für die „Versportung“ der Volksspiele, Oldenburg 1994.